Literarische Touristen

 

    Spötter und Spanner rief er auf den Plan, als er in der Kieler Förde in Begleitung seiner Dichterfreunde Heinrich Wilhelm von Gerstenberg und Friedrich Leopold Graf zu Stolberg baden ging. Das lag weniger am Plantschen und Spritzen im seichten Wasser nahe der Wilhelminenhöhe, eher am begleitenden Deklamieren homerischer Verse im griechischen Original und in deutscher Übersetzung , letztlich aber an dem Ende des 18. Jahrhunderts noch ungewohnten Verzicht auf Badetextilien. Anstifter des hochsommerlichen Nudistenvergnügens am Kieler Ostufer, dem heutigen Sartorikai gegenüber, war im Jahr 1776 der bis dato größte deutsche Dichterfürst: Friedrich Gottlieb Klopstock. Eine Ahnung seiner öffentlichen Wertschätzung vermittelt ein gutes Vierteljahrhundert später sein allerletztes Bad, diesmal eines in der Menge nämlich aus Anlass seiner Beerdigung. An die dreißigtausend Menschen säumten die Straßen von Hamburg nach Ottensen, der Sarg wurde von einer hundertköpfigen Ehrengarde und von weit über hundert Kutschen begleitet. Gesandte aus fünf Nationen gaben sich die Ehre.

Klopstocks Freund Lessing hatte für dergleichen Wertschätzung durch die Menge nur das trockene Aperçu übrig:

 

Wer wird nicht einen Klopstock loben?
Doch wird ihn jeder lesen? – Nein!
Wir wollen weniger erhoben
und fleißiger gelesen sein.

 

    Klopstock arbeitete jahrzehntelang an seinem Messias und führte damit den Hexameter, ein Versmaß, das er den Epen Homers entlehnte, in die deutsche Dichtung ein. Zugleich machte er das subjektive Gefühl erstmals literaturfähig und begründete damit die Epoche der Empfindsamkeit.

 

    Fleißige Leser Klopstocks waren dessen Freunde Gerstenberg und Stolberg. Diese nahmen sich das Schaffen des Meisters zum Vorbild. Gerstenberg entwickelte sich somit zum Wegbereiter des Sturm und Drang und kreierte das erste Sturm-und-Drang-Drama Ugolino. Stolberg war ebenfalls als Sturm-und-Drang-Dichter und als Homer- und Ossianübersetzer tätig. Fast vierzig Jahre nach ihrem Bad in der Kieler Förde sollten beide für ihre Leistungen die Ehrendoktorwürde der Christian-Albrechts-Universiät zu Kiel erhalten.

    Im heißen Sommer 1776 besuchte die Badegesellschaft den gemeinsamen Freund Johann Christian Fabricius, den Kieler Universitätsprofessor und seinerzeit international bedeutendsten Insektenforscher. Er war verheiratet mit Cäcilie Ambrosius, mit der Klopstock Jahre zuvor eine Affäre hatte  allerdings nur brieflich. (Mehr davon in der Buchausgabe von kieliterarisch.)

 

    Fleißiger Leser und glühender Verehrer Klopstocks war auch sein Dichterkollege Johann Gottfried Seume. Nach einem bewegten Leben als Schweine hütender Bauernsohn, Student der Theologie, zwangsrekrutierter Söldner in Nordamerika, Desertierung und Kerkerhaft, Zweitstudium der Jurispudenz und Philologie u.a.m. erhielt er eine Anstellung im Verlag seines Freundes Georg Joachim Göschen in Leipzig. Als Korrektor bearbeitete Seume unter anderem die Werke solch bedeutender Autoren wie Iffland, Wieland und auch Klopstock. Dabei beschränkte er sich nicht nur darauf, Satz- und Druckfehler zu entdecken, sondern er entwickelte zusätzlich einigen Ehrgeiz, die Manuskripte darüber hinausgehend zu verbessern, was die Autoren sich verständlicher Weise nicht ohne Weiteres bieten ließen. So kam es alsbald und wiederholt zu Beschwerden Klopstocks bei seinem Verleger. Seume wendet sich brieflich an den „Verehrungswürdigen Mann“ und räumt Versehen ein. Zugleich führt er Klage über Fehler und Inkonsequenzen im Manuskript des Großschriftstellers und weist nach, dass ein Teil der Beanstandungen auf das Konto des Dichters selbst gehen, denn diese entsprächen der Druckvorlage. Seume resümiert: „Die ganze Nation hält Sie mit Recht für den größten ihrer Dichter und für eine der ersten Zierden des Jahrhunderts; aber die ganze Nation kann nicht glauben, daß Sie unfehlbar sind.“

Klopstock muss Versäumnisse eingestehen; allerdings kränkt er Seume, da er ihn keiner Antwort würdigt, sondern lediglich seinem Verleger schreibt. Seume fühlt sich bestätigt in seiner Vermutung, in den Augen des bewunderten Klopstock lediglich „ein ganz gewöhnlicher Lohnabeiter [zu] seyn“ und bloß „eine der schwersten Arbeiten der literarischen Handlangerey gemacht zu haben.“

    Schließlich schreibt er resigniert: „Da sitze ich in einem alten Polnischen Mantel, friere an den Fingern und skandiere Klopstocks zwanzigstes Buch der Meßiade, weiß der Himmel zum wievielsten Mahl. Wenn ich so fort korrigiere fürchte ich nur, mein ganzes Leben wird ein Druckfehler werden; darum werde ich wohl bald das ganze Korrektorwesen radicitus korrigieren müßen."

    Seinen Beruf leid geworden, findet Seume zu seinen eigentlichen Berufungen, zu der des Wanderers und Schriftstellers. Wenige Jahre später begibt er sich auf eine Fußreise nach Italien, aus der sein berühmtestes Buch Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 entsteht, das ein Jahr später erscheint. Bald darauf macht er sich wieder auf den Weg. Auslöser ist unter anderem Liebeskummer. Die erneute Reise führt den Dichter diesmal ins Baltikum, und zwar rund um die Ostsee, aber selten wirklich zu Fuß. Auf dem Seewege gelangt Seume nach Kiel. Er schreibt davon in seinem Reisebericht Mein Sommer 1805:

 

    Die keilförmige Bucht von Kiel, von welcher wahrscheinlich die Stadt den Namen hat, macht bei der Einfahrt einen schönen Anblick. Rechts die Festung und der Kanal und der Wald; und links einige schöne Dörfer mit schön gruppirten Bergschluchten. Ich hatte nicht geglaubt, daß hier ein so starker Schiffbau wäre, als ich fand. Der Hafen hält bis an die Stadt sehr große Fahrzeuge. [...]

    In Kiel gefällt mirs nicht sonderlich, aber bei Kiel desto besser. Die Gegend ist äußerst freundlich und lieblich, und man könnte wohl sagen malerisch, wenn man darunter das versteht, was die Seele durch das Auge in angenehme Bewegung setzt. [...] [D]as bekanntere Deutschland hat vielleicht nicht noch zwanzig so freundliche Gegenden aufzuweisen, als die Kieler ist: und dann kann man in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes schon sagen, sie sei schön.

    Ein Morgenspaziergang durch Düsterbrook nach der Mündung des Kanals, und von diesem hinauf bis Knop, ist ein Genuß, den zehn Seestädte nicht gewähren. Ich möchte wohl an dem ganzen Kanal hinauf bis an die Nordsee gehen, die Schönheiten müssen zahlreich und mannichfaltig seyn. Von der Mündung bis nach Knop, kaum eine Stunde Weges, begegneten uns eine Menge Schiffe, und ihre Durchfahrt durch die Schleußen giebt Unterhaltung [...].

 

    Seumes zweiter Reisebericht wird in Deutschland erst einmal verboten, da er Kritik an den politischen Verhältnissen des eigenen Landes übt. Mit seinen subjektiven, eigenwilligen Reisebeschreibungen, die nicht nur antikisierenden und anderen Idealen folgen, sondern auch auf das persönliche Reiseerlebnis setzen und einen kritischen Blick auf die Alltagswelt werfen, hat der Aufklärer viele literarische Nachahmer und bleibende Anerkennung gefunden. 

 

Walter Arnold