Ich bin nirgends am Platze, ich bin überall fremd

 

    Ein Kieler war er nicht. Nicht einmal besonders verbunden fühlte er sich mit der Fördestadt, aber Verbundenheit empfand er nirgendwo. Mittlerweile droht sein ehemals berühmter Name aus dem kollektiven Gedächtnis zu verschwinden, obwohl ein Preis nach ihm benannt ist, der wachsenden Aktualitätswert besitzt. Er wird an „herausragende auf Deutsch schreibende Autoren“ vergeben, „deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist. Die Preisträger verbindet zudem ein außergewöhnlicher, die deutsche Literatur bereichernder Umgang mit Sprache.“ Der Kieler Literat Feridun Zaimoglu hat diese Auszeichnung vor Jahren erhalten. Heute ist er einer der Juroren des Adelbert-von-Chamisso-Preises und würde sicher ohne zu zögern dessen Namensgeber diesen Preis postum verleihen. 

    Der deutsche Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso (1781-1838) hat als Kind und Heranwachsender besagten „Kulturwechsel“ erlebt und erlitten – unfreiwillig. Als Neunjähriger floh er mit seiner adligen französischen Familie mittellos vor den Auswirkungen der Französischen Revolution und gelangte über Brabant, Holland und Süddeutschland schließlich nach Berlin. Dort besuchte der Katholik zeitweilig das von Hugenotten gegründete protestantische französische Gymnasium. Mit 17 Jahren trat er in die preußische Armee ein, brachte es dort zum Leutnant und musste 1806 gegen Napoleon – d.h. gegen seine eigenen (ehemaligen?) Landsleute – in den Krieg ziehen. Innerlich zerrissen quittierte er nach der preußischen Niederlage den Militärdienst. „Irr an mir selber, ohne Stand und Geschäft, gebeugt, zerknickt“, bemerkte er Jahre später über diese Zeit. Chamisso wanderte zwischen Deutschland und Frankreich hin und her und verbrachte ein Jahr in der Schweiz. 1810 resümierte er bündig sein Schicksal gegenüber seiner Freundin und Gönnerin, der ebenfalls aus Frankreich vertriebenen germanophilen Madame de Staël: „Ich bin Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich, Katholik bei den Protestanten und Protestant bei den Katholiken, Philosoph unter den Frommen und Mucker unter den Freigeistern, Weltmann unter den Gelehrten und Pedant unter den Leuten von Welt, Jakobiner unter den Aristokraten und unter den Demokraten ein Edelmann, ein Mann des Ancien régime usw. Ich bin nirgends am Platze, ich bin überall fremd…"

    1812 begann Chamisso ein Studium der Naturwissenschaften an der neugegründeten Berliner Universität. Als in Preußen die patriotische Stimmung zu einem Aufstand gegen Napoleon führte und die französischen Truppen in den Befreiungskriegen 1813 zum Rückzug gezwungen wurden, musste Chamisso Schutz bei Freunden auf Gut Kunersdorf im Oderbruch suchen. Dort schrieb er sein berühmtestes Werk „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“.

    Fremdheit, Unbehaustheit und Isolation thematisiert der Dichter in dieser Erzählung, die noch vor wenigen Jahren als klassische Schullektüre galt: Der deutlich autobiografisch gezeichnete Held verkauft seinen Schatten an den Teufel und handelt sich dafür „Fortunati Glücksseckel“ ein, einen nie versiegenden Geldbeutel, aber auch den Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft, denn die will einen Schattenlosen nicht dulden. Der Teufel erklärt sich bereit, Schlemihl seinen Schatten zurückzugeben – im Austausch für dessen Seele. Doch dieser bleibt standhaft und führt hinfort ein Leben als einsamer Naturforscher. Schlemihl bekennt: „Durch frühe Schuld von der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen, ward ich zum Ersatz an die Natur, die ich stets geliebt, gewiesen, die Erde mir zu einem reichen Garten gegeben, das Studium zur Richtung und Kraft meines Lebens, zu ihrem Ziel die Wissenschaft.“ Siebenmeilenstiefel führen ihn durch die ganze Welt.

    Wenige Jahre später – Napoleon rüstet zu neuen Feldzügen – begibt sich der Autor des „Schlemihl“ auf die Spur seines Helden, nicht per Siebenmeilenstiefel, sondern auf einem russischen Segler, den er in Kopenhagen besteigt. Eine dreijährige naturwissenschaftliche Expedition führt ihn „Rund um die Welt“, wie der Titel seines Aufsehen erregenden Tagebuchs (1836) verheißt.

Auf dem Weg nach Kopenhagen passiert Chamisso die damals noch unter dänischer Herrschaft stehende holsteinische Universitätsstadt Kiel. 

 

      Am 21. [August] abends nahm ich Extrapost nach Kiel. […]

      Ein Einlaß des Meeres schlängelt sich gleich einem Landsee  

      landeinwärts nach Kiel, begrenzt von Hügeln, die im schönsten 

      Grün der Schöpfung prangen. Ein Binnenmeer ohne Ebbe und

      Flut, in dessen glatte Spiegelfläche das grüne Kleid der Erde

      hinabtaucht, hat das Großartige des Ozeans nicht.   

 

    Für die Stadt an der Förde findet er nur wenige Worte: 

 

      In Kiel am 22. Juli angelangt, war ich daselbst gleich heimisch,

      ...

 

    der Reisende fügt jedoch relativierend hinzu: 

 

      … wie ich überhaupt die Gabe in mir fand, mich überall gleich  

      zu Hause zu finden. Etliche der Männer, die ich zu sehen hoffte,

      waren bereits zur Krönung nach Kopenhagen abgereist. Ein

      Freund führte mich in befreundete Kreise ein, und ich wartete

      in freudigem Genusse des Moments auf die Abfahrt des

      Paketboots.    

 

    In der Tat trifft Chamisso in Kiel erwartete Freunde in der dänischen Hauptstadt an. 

 

      Ich habe in Kopenhagen, wo ich mich gleich heimisch

      eingerichtet hatte, mit lieben teilnehmenden Freunden und im

      lieb- und lehrreichen Umgange von Männern, die in

      Wissenschaft und Kunst die Ehre ihres Vaterlandes sind,

      vielleicht die heitersten und fröhlichsten Tage meines Lebens

      verlebt.

 

    Eher unvermittelt beendet Chamisso seine Ausführungen über Kopenhagen mit einer Bemerkung, die nach Holstein zurückführt: 

 

      Zu Kiel sind die Professoren deutsch, die Studenten dänisch

      gesinnt.

 

    Auf den ersten Blick erscheint es eher von geringem Interesse, dass Chamisso auf seiner Weltreise in den Jahren 1815 bis 1818 auf dem Weg nach Kopenhagen in Kiel Station gemacht hat. Bei näherem Hinsehen wirken seine kargen Mitteilungen darüber symptomatisch für sein Emigrantenschicksal. Weder in Frankreich noch in Deutschland heimisch, entdeckt er bei sich die „Gabe“ zum Weltbürger. Überall scheint er Freunde und Gleichgesinnte zu finden, seien es Literaten oder Gelehrte, deren Tätigkeitsfeld und Gesellschaft für ihn zu einer neuen, geistigen Heimat werden. Zwei diese Art von Geborgenheit charakterisierende Begriffe aus dem näheren und weiteren epochalen Umfeld lassen sich dazu assoziieren: „Weltliteratur“ und „Gelehrtenrepublik“. Beide Begriffe stammen von Autoren, die Chamisso las: Goethe und Klopstock. Literatur und Naturstudium unter Freunden liefern Chamisso einen Ausweg aus beengenden und befremdenden politisch-sozialen Verhältnissen. Geografische Orte wie Kiel und Kopenhagen werden ihm in diesem Sinne einerseits austauschbar und somit bedeutungslos, andererseits wecken sie, wie Chamissos letzter Satz bezeugt, seine Aufmerksamkeit und sein Interesse. Wechselnde Empfindungen wie „heimisch“ und „fremd“ machen ihm die Identität stiftende Bedeutung unterschiedlicher Herkunfts- und Herrschaftsbereiche immer wieder bewusst. Auf Kiel bezogen legt er damit schon früh den Finger in eine sich langsam entzündende nationale Wunde, die erst Jahrzehnte später – nach der ersten und zweiten schleswig-holsteinischen Erhebung gegen die dänische Obrigkeit – verheilen wird.

 

Walter Arnold