WALTER ARNOLD 

 

Ernst Barlachs Geistkämpfer, seine Mitstreiter und seine Widersacher 

 

Vor einer Kirche in der Altstadt stand ein Denkmal eines armen kleinen, sehr häßlichen Hundes mit lauter Zacken und Schuppen am Bauch und um die Ohren. Auf seinem Rücken stand ein riesiger Mann mit Flügeln. Warum stellte er sich mit seinem ganzen Gewicht auf das Tier, wenn er doch fliegen konnte? Der arme Hund konnte sich nicht wehren, weil der Mann ihm auch noch mit einem langen Schwert drohte. Selim rätselte, was das zu bedeuten hatte. 

  

 

Der ahnungslose Flaneur auf dem Alten Markt in Kiel namens Selim ist ein türkischer Gastarbeiter, den es Mitte der 1960er Jahre in die norddeutsche Stadt verschlagen hat. Der junge Mann - Protagonist von Sten Nadolnys Roman "Selim oder Die Gabe der Rede" (1990) - steht sinnend vor Ernst Barlachs Geistkämpfer. Als Grund für seine Ratlosigkeit wurde vermutet, dass aufgrund eines fremden kulturellen Hintergrunds dem zugereisten Betrachter zur korrekten Deutung des Kunstwerks die Kenntnis der Geschichte des Heiligen Georg fehle. Jahrzehnte später ist die Barlach'sche Plastik - jetzt nicht mehr auf der fiktiven Ebene des Romans, sondern real - mit einer Informationstafel versehen worden. Diese gibt zwar nicht über die Geschichte des Heiligen Georg Auskunft, erklärt aber bündig, hier sei "der Sieg des Guten über das Böse dargestellt". Offensichtlich bereitet die Deutung des Geistkämpfers bis heute Schwierigkeiten, denn weder die Sicht auf "ein Denkmal eines armen kleinen, sehr häßlichen Hundes" noch der Hinweis auf eine Heiligenfigur oder die Kunde vom "Sieg des Guten über das Böse" vermögen das Kunstwerk hinreichend zu erfassen. Dies hat Tradition, die - auf Barlachs Kunst bezogen - oft eher den Sieg des Bösen über das Gute repräsentiert und darin nicht nur Kieler Mentalitätsgeschichte widerspiegelt. Nach ihrer Aufstellung vor der Heiligengeistkirche im Jahre 1928 - wie Barlach berichtet - "in aller Heimlichkeit, ohne Feier und Weihe", "frostig[er] und ablehnend[er]" Aufnahme durch die Bevölkerung, ersten Attacken, die ein "abgebogen[es]" Schwert hinterließen, Schmähung als "entartete Kunst" und Demontage durch die Nationalsozialisten 1937, Ausstellung im und baldige Entfernung aus dem Thaulow-Museum, Rettung vor Einschmelzung, Zersägung in vier Teile, geheimer Einlagerung und kompliziertem und kostspieligem Rückkauf durch die Stadt ... konnte die Plastik restauriert und schließlich 1954 vor der Nikolaikirche am Alten Markt feierlich wieder errichtet werden. Für Missachtung und Schändung des Kunstwerks sowie verspätete Erkenntnis seiner Bedeutung musste die Stadt Kiel einen weiteren Preis bezahlen, nämlich den Verlust der Einmaligkeit der Figur durch fünf Abgüsse, von deren Verbleib nur die Exemplare im öffentlichen Raum in Minneapolis und Berlin bekannt gemacht wurden ...

 

Weiter im Text geht es in ZENO, Jahrheft für Literatur und Kritik 36, 37. Jg. 2016, S. 117-131 oder umfassender unter dem Titel Ernst Barlachs Geistkämpfer - ein Roland für Kiel?, in: NORDELBINGEN. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 84, Heide 2015, S. 165-200                              Foto: I, VollwertBIT